Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns bei Chainist mit alternativen Geldsystemen auseinandersetzen. Mit Community Currencies und Aave’s DeFi-Protokoll konnten wir bereits den ein oder anderen Blick in diese spannende Thematik werfen. Doch auf das, was uns in diesem Vortrag bevorstand, waren selbst wir nicht vorbereitet. Senior Researcher Dr. Marcus Dapp und Doktorand Mark Ballandies von der ETH Zürich demonstrierten auf beeindruckende Weise wie eingeschränkt unser Glaubenssystem in Bezug auf unser heutiges Geldsystem ist und welch Potenzial hinter Community-generierten Geld und ihrer Plattform Finance 4.0 steckt.
Zum Einstieg stellt Marcus die Frage:
„Warum haben wir es mit immer mehr und mit immer schneller auftretenden globalen Herausforderungen zu tun?„
Einen Grund sieht er darin, dass der Mensch besonders schlecht darin ist, die Auswirkungen seiner Aktionen abzuschätzen – vor allem, wenn eine große Zeitspanne dazwischen liegt. Wie schaffen wir es also die zukünftigen negativen Auswirkungen unseres heutigen Handelns zu verringern? Die Zeit können wir natürlich nicht verkürzen. Was wir tun können, ist etwas zu nutzen, das über den gesamten Zeitraum wirkt, ein starkes Signal durch die Zeit sozusagen. Menschliche Zivilisationen nutzen es schon sehr lange. Wir bezeichnen es als Geld.
Geld als Informationssignal
Das Ziel des Projekts Finance 4.0, ist das Konzept des Geldes als Informationssignal auszuweiten. Gleichzeitig will es zum Nachdenken anregen. Was ist Geld? Welche Funktion erfüllt es? Der vorgeschriebene Pfad der Profitmaximierung soll verlassen werden. Stattdessen sollen Communities mit verschiedenen Geldsystemen experimentieren.
Money is a signal of what is valuable to us.
Money is future potential, similar to stored energy.
Money is directed energy. Today it maximizes only profit.
Money creation is the privilege of banks. Why?
Aus den Präsentationsfolien
Wie im Finance 4.0 Video zu Distributed Sustainability beschrieben, lassen sich lokale und globale Werte nur schwer in individuelle Anreize umsetzen. Zusätzlich hat unser derzeitiges ökonomisches System Probleme, Nachhaltigkeit zu bewerten. Als Folge greifen wir womöglich eher zur Billigware – negatives Verhalten wird belohnt und positives Verhalten monetär ignoriert. Nun stell dir eine Welt vor, in der du real nutzbare Sustainability Coins beim Kauf von fair produzierter Kleidung erhältst oder Ecology Coins, wenn du mit dem Fahrrad zur Arbeit fährst. Stell dir vor, dass all die Personen, die an gemeinnützigen und nachhaltigen Zielen wie Bildung und sozialer Integration arbeiten, gemäß ihrem gesellschaftlichen Impact entlohnt werden. Dies ist eine völlig andere Ausgangslage. Genau hier setzt das Forschungsprojekt Finance 4.0 an.
“They who control the credit of the nation, direct the policy of governments and hold in the hollow of their hands the destiny of the people.”
Reginald McKenna
Marcus betont, dass verschiedene Regionen der Welt unterschiedliche Ausgangssituationen haben mit unterschiedlichen Zielen, die unterschiedlich gewichtet werden. Und dennoch müssen alle Communities mit der gleichen Geldart, dem Fiatgeld, zurechtkommen und Probleme angehen. Doch was wäre, wenn diese unterschiedlichen Communities in der Lage wären, eigene Währungen zu kreieren, die andere Eigenschaften besitzen als das heutige Fiatgeld? Kein Zins, keine Inflation, Beschränkung der Geldmenge, die Kopplung der Tokenausgabe an bestimmte Aktionen – all dies sei möglich mit der Plattform Finance 4.0.
Geld als Designproblem
Bisher war Geld kein Designproblem. Es war einfach da, geschöpft durch die Banken. Ein einfacher und pragmatischer Ansatz, der für Klarheit sorgt. Trotz dem nagenden kollektiven Gefühl, etwas könnte mit dieser Art von Geldschöpfung nicht stimmen, ist dieses Bild so tief in uns verwurzelt, dass wir kaum in der Lage sind konstruktive Fragen diesbezüglich zu stellen. Die Diskussion wie Geld anders funktionieren könnte, gibt es schlichtweg nicht. Dabei sind gerade die richtigen Fragestellungen der Ausgangspunkt, um unsere ins Alter gekommenen Glaubenssätze aufzurütteln.
„Was machen wir eigentlich, wenn wir Papier nehmen und darauf irgendwelche Zahlen schreiben und sagen, dafür kann ich jetzt ein Auto kaufen oder in irgendeiner Wohnung wohnen? Wie gehen wir mit Zeit um, wenn Geld über die Zeit an Wert verliert? Was heißt Schulden? Unser Geld ist ein Schulden-basiertes System. Jeder Euro der entsteht, bedeutet, jemand anderes im System hat diesen Euro als Schulden stehen.“
Marcus Dapp
Mit der Geburt von Bitcoin änderte sich der Blick wie wir Wert sehen, was wir darunter verstehen. Plötzlich machen Gespräche über Incentivierungssysteme, spieltheoretische Dynamiken und den intrinsischen Wert einer (digitalen) Währung die Runde. Mit der zugrunde liegenden Blockchain ist es zum allerersten Mal möglich, Regeln in Software zu gießen, die danach nicht mehr – oder zumindest sehr erschwert – verändert werden können.
“If nothing else, Bitcoin has made money into a general design problem, as it should be, and not just the design of financial products or the look of paper bills, but of vessel abstractions of time, debt, work, and prestige.”
Bratton (2015), The Stack – On Software and Sovereignty, p336f
Die Regeln, die diese Software verkörpert, implizieren verschiedene Anreize und errichten darüber ein hoch komplexes Verhaltenssystem der Teilnehmenden. Sichere Software ist dabei nur ein kleiner Bestandteil der Herausforderungen, denen sich Blockchain-Entwickler-Teams stellen müssen. Die Einbindung vieler weiterer Disziplinen ist für ein erfolgreiches Projekt notwendig. Schließlich geht es um die Erschaffung eines resilienten, womöglich globalen Netzwerks, das den Launen verschiedenster Akteure ausgesetzt ist und niemandem gehört. Ein Neustart ist nicht möglich, eine Änderung äußerst schwer zu realisieren.
„Bitcoin ist nicht einfach nur ein Stück Software, das ganz viele Leute bei sich laufen lassen und damit Bits hin und herschieben, die knapp sind und sich dann andere überlegt haben, dass sie was wert sein könnten in unserem heutigen Geld gemessen. Die Teilnehmer des Bitcoin-Netzwerkes haben auch Anreize sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Mining-Betreiber haben andere Anreize als Nutzer oder Entwickler.“
Marcus Dapp
Der Design Raum
Trotz vieler Innovationsprojekte wird das neue Potenzial kaum genutzt. Tatsächlich versuchen wir Altbekanntes in das neue System hineinzutragen. Nach Marcus lösen beispielsweise viele Regionalwährungsprojekte ein relativ enges Problem, nämlich mangelnde Liquidität an einem bestimmten Ort. Durch das Schaffen von Ersatzgeld, das monatlich an Wert verliert, werde die regionale Wirtschaft angekurbelt. Die Technologie könne aber weitaus mehr als nur Geld kopieren. Vielmehr sei es möglich Anreize für beliebige Aktionen zu setzen, die unter Hinzunahme von IoT, Foto oder sogenannten Social Proofs bestätigt werden können.
Um zu begreifen, wie weit wir tatsächlich davon entfernt sind, das Potenzial der Blockchain zu begreifen, müssen wir uns den Design Raum vor Augen führen, der in der vorangegangenen Abbildung aufgezeigt ist. Dieser ist mit seinen über 14 Millionen Kombinationsmöglichkeiten unvorstellbar groß. Die Folgerung hieraus ist äußerst erstaunlich: Bitcoin und Ethereum, zwei Systeme, die nach unserer heutigen Auffassung sehr verschieden sind, sind ähnlicher als man glauben mag. Sie unterscheiden sich an gerade einmal drei Stellen im Design Raum, wie die folgende Abbildung zeigt.
Damit steht außer Frage, dass uns die neuen Möglichkeiten zu neuen Designfragen führen, die über das übliche Software Design hinausgehen und bereits jetzt schon die Begriffe Cryptoeconomic Design bzw. Token Engineering geprägt haben. Mit der erschlagenden Komplexität dieser Disziplin werden Simulationen und Experimente immer wichtiger, was durch die dezentrale Natur von Distributed Ledger Technologien zwar schwierig, aber glücklicherweise möglich ist.
“The thing you do, when you don’t know, is not to bluff and not to freeze, but to learn. The way to learn is by experiment – or, as Buckminister Fuller put it, by trial and error, error, error.”
Meadows and Wright (2009), Thinking in Systems, p180
Idealerweise beginnt man recht früh zu experimentieren. Denn Systeme haben an sich, sehr schnell sehr komplex zu werden wie das Drei-Körper-Problem zeigt. Die Modellierung eines Tokensystems bildet hier keine Ausnahme. Niemand kann voraussagen, ob ein gewisses Design auch mit 10.000 Personen funktioniert. Umso beeindruckender ist es, dass Bitcoin als erste Krypto-Plattform bis heute so gut funktioniert.
„Was ihr mitnehmen könnt: Leute, die euch einfach irgendwie einen Coin andrehen, wissen meistens nicht wovon sie sprechen.“
Marcus Dapp
Falls du mehr zum Design Raum erfahren möchtest, solltest du dir folgendes Paper zu Gemüte führen: Ballandies, Mark C., Marcus M. Dapp, and Evangelos Pournaras. „Decrypting Distributed Ledger Design–Taxonomy, Classification and Blockchain Community Evaluation.“ arXiv preprint arXiv:1811.03419 (2018)
Die Finance 4.0 Plattform
Für die Repräsentanz von Wert nutzt die Finance 4.0 Plattform die Designprinzipien
- Multidimensionales Incentivierungssystem,
- Bottom Up Geldschöpfung,
- Dezentrales Netzwerk von Peers,
- Demokratische Governance.
Das zugrunde gelegte Prinzip, einen gewissen Token zu erhalten, ist dabei sehr einfach. Man erhebt Anspruch auf einen Token, beweist, dass eine gewisse Aktion vorausgegangen ist und erhält den Token. Beispielsweise könntest du einen Baum pflanzen, mit Hilfe eines Fotos den nötigen Beweis dafür liefern und im Gegenzug einen TreeToken erhalten. Dem Erfindungsreichtum ist an dieser Stelle keine Grenze gesetzt. Egal, ob einer Person in Not geholfen wird, der Strand von Müll befreit wird oder alte Gegenstände recycled werden. Für alle positiven Aktionen können genaue Regeln zur Tokenausschüttung festgelegt werden, ebenso die Art und Weise wie der Beweis hierfür stattfinden soll. Jedem steht frei einen eigenen Token zu definieren.
Mit Hilfe eines Governance Systems entscheiden die Mitglieder einer Community wie sinnvoll einzelne Vorschläge den Bedürfnissen der Community entsprechen. Anders formuliert, die Tokens und ihre Eigenschaften entstehen aufgrund der Nachfrage der einzelnen Communities und werden ihnen nicht von außen aufgezwungen – das ist ein wichtiges Merkmal, um zur Nachhaltigkeit einer Region beizutragen. Denn Tokens, die in einer riesigen Stadt in Lateinamerika benötigt werden, haben wahrscheinlich ganz andere Eigenschaften als irgendwo in Süddeutschland im Grünen.
„Wir versuchen in Bereichen des zwischenmenschlichen Austausches Märkte entstehen zu lassen, wo heute keine Märkte sind. Einfach weil es im heutigen Geldsystem nicht möglich ist einen Markt zu erstellen. Wenn die Firma, die euer Smartphone erstellt, nebenan einen Fluss verschmutzt und dies zum Fischsterben fünf Kilometer weiter unten führt, dann ist nicht klar, dass diese Firma für diese Kosten aufkommt und das wieder in Ordnung bringt. Das hängt ganz davon ab in welchem Land [man sich befindet] und mit welcher Regierung und mit welchem Regelwerk und auch wie stark das [Regelwerk] durchgesetzt wird. Und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die meisten Unternehmen versuchen die günstigste Lösung zu finden. Warum? Weil wir ein System haben, das den Profit maximiert und die Kosten minimiert und nicht das Fischüberleben maximiert. Wenn wir es schaffen, Märkte zu bauen, von denen Leute […] profitieren könnten, wenn mehr Fische überleben, dann ändern sich vielleicht auch die Aktionen drumherum.“
Marcus Dapp
Die Plattform in Aktion
Nach Marcus‘ erkenntnisreichen Vortrag übernimmt Mark das Wort und führt uns durch die einzelnen Schritte der Token-Erstellung. Der gesamte Prozess spielt sich auf dem Rinkeby Testnetzwerk von Ethereum ab und als besonderes Feature bietet die Plattform die Möglichkeit direkt etwas Ether zu erhalten. Dies nutzen auch direkt einige wagemutige Teilnehmende des Meetups, um ihren eigenen Token live mitzukreieren.
Über den Token Creation Wizard beginnt Mark mit der Definition eines TreeTokens, dem er das Symbol TRT zuweist. Als weitere Eigenschaften lässt er den Token burnable (die Tokenmenge ist reduzierbar), mintable (die Tokenmenge ist vermehrbar) und transferierbar sein.
An dieser Stelle könnte man sich die Frage stellen, ob ein nicht-transferierbarer Token überhaupt Sinn ergibt. In der Tat gibt es Anwendungsfälle. Beispielsweise könnte ein Reputationstoken an einen festen Nutzer gebunden sein.
Als Regel legt er fest, dass der Erhalt eines TreeTokens an das Pflanzen eines Baums gekoppelt ist. Hier wird insbesondere ein Grundproblem der Blockchain-Technologie deutlich. Wie könnte man dafür sorgen, dass man nur vertrauenswürdige Daten in die Blockchain bekommt? DeFi-Kennern sind natürlich sogenannte Oracles ein Begriff, die für den nötigen Dateninput sorgen. Aber wie kann nachgewiesen werden, dass ein Baum gepflanzt wurde? Hierzu greift Mark in die Trickkiste. Neben einem Foto, das der Betroffene als Beweis hinterlegen muss, müssen zusätzlich drei weitere zufällig gewählte Nutzer innerhalb der nächsten 60 Minuten dieses Foto verifizieren. Dass dies nicht die sicherste Variante ist, darauf weist Mark uns hin. Beim Token-Design sollte hier besonders viel Wert darauf gelegt werden mit der passenden Auswahl verschiedenster Mechanismen das Angriffsrisiko zu minimieren.
Nach sieben Schritten ist es geschafft und Mark geht unter anderem auf die Wertfrage des Tokens ein. Denkbar sei beispielsweise eine öffentliche Liste der Akteure mit ihren zugehörigen Tokenanzahlen. Großen Konzernen könnte solch ein Nachhaltigkeitsnachweis durchaus nützlich sein. Auch ist eine Anbindung an eine jährliche Lotterieausschüttung denkbar.
Besonders erfreulich ist, dass Mark im Vorfeld den RealChainistPresenceToken erstellt hat, den einige Mitglieder der Community am Ende der Vorstellung geclaimed haben. Dabei wurde nochmals deutlich wie generisch und dennoch einfach die Finance 4.0 Plattform geschaffen ist. In diesem Fall wurde ein Passwort als Beweismechanismus gewählt.
Gesprächsrunde
Bei einer Sache sind sich alle Teilnehmenden einig: Die Präsentationen von Marcus und Mark waren großartig und die aufgenommene Informationsdichte muss erstmal verarbeitet werden. An dem Feedback merkt man, wie die Köpfe rauchen, neue Ideen entstehen und wie positiv die Plattform aufgenommen wurde. Uns allen ist bewusst, dass das was wir gerade gehört haben, was völlig Neues ist und wir es hier mit kaum diskutierten Fragestellungen zu tun haben. Auch begreifen wir, dass wir trotz der dargebotenen Tiefe, immer noch an der Oberfläche kratzen und dies auch in den nächsten Jahren so bleiben wird.
Tobias merkt an, dass das Gelddesign aus der realen Welt im Normalfall evolutionär entstanden ist und Finance 4.0 die Möglichkeit bietet, verschiedene evolutionäre Designs durchzuspielen. Der Knackpunkt an der ganzen Sache sei allerdings die Frage, ob uns das derzeitige bestehende System repräsentiert oder es uns prägt. Ist das Geldsystem als unabhängige Variable so bedeutend für das Verhalten der Menschen, dass sie sich bei einem anderen monetären System anders verhalten würden? Darauf hat niemand von uns eine Antwort. Und Marcus erwidert, dass allein schon die Tatsache, dass wir die Antwort nicht kennen, einen guten Grund liefert dies auszuprobieren. Denn er glaubt, dass wir zu einem gänzlich anderen System kämen, wenn wir demokratisch darüber abstimmen würden. Schließlich wurde in der Vergangenheit alles Mögliche als Tauschmittel genutzt. Dem gegenüberstehend gäbe es heute eine Zentralbank, die allein bestimmt, was wir als Geld zu nutzen haben.
„Am Ende ist es eine philosophische Frage […], ob die Vergangenheit deterministisch die Zukunft bestimmt oder ob es sowas wie einen historischen Moment gibt, der auch ermöglicht […] irgendwo hinzukommen was man nicht deterministisch voraussehen kann. Und wenn das der Fall sein sollte, dann ist es wert so etwas auszuprobieren.“
Mark Ballandies
Gerade im Hinblick auf eine Vermutung aus den Komplexitätswissenschaften, ist dies interessant wie Mark ergänzt. Sie besagt, dass für ein System mit vielen Kontrollvariablen es besser ist sich selbst zu organisieren, um in einen Gleichgewichtszustand zu kommen.
Mit der Internalisierung externer Kosten bringt Ronald das nächste Thema ins Rollen. Der Zugang zu knappen Ressourcen werde dabei zu einer ganz praktischen Herausforderung. Denn was bringt einem ein TreeToken, wenn der Zugang zu Nahrungsmitteln nur über das alte Geld funktioniert? Wie entsteht am Ende der Anreiz an einem parallelen System teilzunehmen, das nicht in eine Fiatwährung umrechenbar ist? Der Umgang mit dieser Koexistenz ist noch unklar. Trotzdem, so äußert Mark, müsse man sich über die potenziellen Gefahren eines Einklinkens der neuen Tokens in das alte System bewusst sein. Schließlich gab es schon immer Bereiche im zwischenmenschlichen Leben, die nicht ökonomisiert waren, über die letzten Jahre aber ökonomisiert wurden, wie der soziale Bereich zeigt. Dabei gibt es praktische Gründe, dass dies gegebenenfalls nicht wünschenswert ist. Gemäß dem Crowding Out Effekt kann ein externen Geldanreiz nämlich zu einer Verminderung der intrinsischen Motivation führen.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Sachen gibt, wo man auch gar keinen Token für haben sollte.“
Mark Ballandies
Marcus ergänzt, dass es dennoch wichtig sei, einen Währungswettbewerb im eigentlichen Sinne zu kreieren, bei dem sich die besten Tokens durchsetzen. Zwar gäbe es einen gewissen Markt zwischen den Währungen, aber auf eine ganz andere Art und Weise. In diesem konkurrieren die großen „Blöcke“ miteinander, nutzen ihre Währungen sowie relative Preise, um gewisse Vorteile zu erzielen. Währungs- und Handelskriege sind die Folge.
„Wir sind erst jetzt dabei zu lernen, dass Geld mit Geographie nichts zu tun hat. Diese Erfindung [Bitcoin] ermöglicht tatsächlich dem kleinen Mann und der kleinen Frau […] in einen Wertspeicher was abzulegen, der nicht durch jemand anderes kontrolliert werden kann. Das gab es so noch nicht. Selbst Gold wurde im Extremfall konfisziert. […] Wer die Regeln macht, ist eine zentrale Frage. Und was uns der Crypto Space ermöglicht, ist, […] dass das Machen der Regeln nicht mehr in der Pyramidenspitze stattfindet.“
Marcus Dapp
Wie sieht es mit dem Datenschutz aus? Womöglich möchte der Besitzer eines TreeTokens nicht, dass andere auch seinen HarleyDavidsonToken sehen, stellt unser Datenschutzexperte Jacob fest. Hier herrscht noch Ausbaupotenzial. Benjamin, Hauptentwickler der Plattform, meint, dass es möglich wäre die nötigen Informationen zusammenzusuchen.
Am Ende sollte der Mensch bei solch einem System im Mittelpunkt stehen und Ungerechtigkeiten frühzeitig adressiert werden. Mit ihrer Frage, wie dieses neue System mit Ungleichheiten umgeht und ob es genutzt werden kann, um diese zu verringern, spricht Caro einen äußerst wichtigen Punkt an. Ressourcen sind nicht gleichmäßig verteilt. Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich und verschiedenste Faktoren können die Möglichkeiten des Einzelnen gegebenenfalls stark einschränken. Fragen, die das Team hinter Finance 4.0 bereits während der Konzeptionsphase beschäftigt haben. Von Sanktionen und Negativ-Credits, die auf ungleiche Voraussetzungen oder negatives Verhalten abzielen, hat das Team abgesehen. Die Plattform solle ein Opt-In-System bieten, das zum Mitmachen animiert. Daher lag der Fokus von Anfang an auf die Incentivierung von positiven Aktionen.
Zu guter Letzt trifft Florian mit seinen Ausführungen zur Einbeziehung echter Communities voll ins Schwarze, und den Schwachpunkt des Projekts. Gerade im kreativen Bereich gäbe es viele, die an solchen Projekten interessiert sind – Menschen, die gerne tief in die Materie eintauchen wollen und können, die bereits Vertrauenskontexte generieren oder sich über Clubmitgliedschaften organisieren. The Futur ist ein gutes Beispiel für eine Community, die Bildung neu denkt und von der Plattform profitieren könnte. Marcus erwidert, dass für das Jahr 2020 Feldversuche geplant waren, gerade aber wegen Corona zerbröselt sind. Dabei müssen gerade Versuche mit echten Communities der nächste Schritt sein.
„[Künstlergruppen] sind sehr internationalisierte Gruppen von like-minded People, die auf solche Systeme eigentlich angewiesen wären. […] Schaut auf die Gatekeeper zu anderen Bereichen, die eine Art Transmitterfunktion haben und das Ganze einfach multiplizieren können. […] Die aktuelle Zeit ist einfach die Zeit, in der Sachen neu entstehen und man sich selbst grundsätzlich neu erfinden kann.“
Florian Adolph
Auch wenn eine viel größere Kontextgenerierung noch fehlt und das Forschungsprojekt zu Ende ist, versichert Marcus, dass der Betrieb der Plattform für das gesamte Jahr 2021 gesichert ist. Ebenso ist das Projekt Open Source und das zugehörige Buch wird bald offen zur Verfügung stehen.
Falls du also Interesse hast, etwas zu diesem Projekt beizutragen, findest du alle wichtigen Informationen auf der Finance 4.0 Homepage.
Fazit
Es war ein unglaublich aufschlussreicher Abend, den wir so schnell nicht wieder vergessen werden. Das durchweg positive Feedback zeigt, dass der Inhalt bei allen Teilnehmenden etwas im Kopf bewirkte und man spürte förmlich wie die Köpfe auf Hochtouren liefen, um den uns gebotenen Perspektivwechsel sowie die Menge an neuen Informationen halbwegs zu verarbeiten. Das positive Feedback ging sogar über das Meetup hinaus wie ein Post von Stefan zeigt.
Ich bin zutiefst beeindruckt, mit welch Tiefe die Fragestellungen beleuchtet wurden und wie viele unterschiedliche Gedanken in diese vergleichsweise relativ einfach wirkende Lösung geflossen sind. Finance 4.0 ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Genialität in der Einfachheit liegt. Bereits der Einstieg, Geld als Informationssignal durch die Zeit zu interpretieren, lässt den altbekannten Satz „Zeit ist Geld“ in völlig neuem Licht erscheinen. Die Idee, positives und nachhaltiges Verhalten als intrinsischen Bestandteil des Geldes zu implementieren und die Erörterung der Wechselwirkung zwischen menschlichen Verhalten und dem Geldsystem trugen ebenfalls sehr zu meiner Faszination bei.
Mir wurde mal wieder bewusst, wie sehr wir uns der Illusion hingeben, unsere komplexe Welt in mathematische Formeln gießen und somit kontrollieren zu können. Egal ob wir von Nash-Gleichgewichten oder stochastischen Berechnungen reden, die nur unter der Annahme funktionieren, dass die zugrunde liegenden Zufallsvariablen unabhängig und identisch verteilt sind – wir verlassen uns zu sehr auf unsere Berechnungen und verpassen es die wahre zugrundeliegende Gestalt zu verifizieren. Was wir brauchen, sind mehr Fragen. Fragen sind der Schlüssel unsere Welt besser zu verstehen. Wer glaubt eine Antwort zu kennen, beraubt sich selbst einer Erkenntnis.
An dieser Stelle bedanke ich mich nochmals herzlichst bei unseren Gästen Marcus und Mark für den beeindruckenden Vortrag. Ein großer Dank an dich Benjamin, dass du als Hauptentwickler der Plattform Fragen zu technischen Details beantwortet hast. Vielen lieben Dank an Florian, Caro, Ronald, Tobias, Jacob, Nhan, Stefan und Günther für eure bemerkenswerten Fragen und Beiträge während der Gesprächsrunde. Und natürlich ein großer Dank an alle weiteren, die ich nicht namentlich genannt habe. Ich hoffe ihr konntet alle etwas aus dem Vortrag mitnehmen. Am Ende ist es doch der direkte Austausch, der unsere Community am Leben hält und bei dem wir am meisten lernen.
Ich wünsche dem Projekt weiterhin alles Beste und hoffe, dass sich einige Communities finden lassen, die ebenfalls so begeistert von der Plattform sind wie wir und mit unzähligen Experimenten etwas zu dieser wunderbaren Thematik beitragen.
Weiterführende Links
Hier geht es zu
- den Folien: Finance 4.0 – A Socio-Ecological Financial System
- dem Video: Ein neues sozio-ökologisches Finanzsystem
Über das Finance 4.0 Team
Dr. Marcus M. Dapp ist Senior Researcher an deer Chair of Computional Social Sciences und Research Fellow am UCL Centre for Blockchain Technologies. Er prägte den Begriff „Digital Sustainability“, besitzt über 10 Jahre Expertise in Open Source Software, war für den Golden Owl Best Teaching Award nominiert und hält Vorlesungen an der ETH Zürich, unter anderem „Ethical Challenges of the Digital Society“ mit Professor Helbig. Er ist außerdem akademischer Lead von BIOTS, der Blockchain & IoT School an der ETH Zürich.
Mark C. Ballandies ist Doktorand am Professorship of Computational Social Science. Er besitzt Expertise in Evolutionären Algorithmen, Machine Learning und Software Entwicklung. Ebenso war er in mehreren EU Projekten involviert, wie z.B. FuturICT 2.0, ist Begründer der netti. App und engagiert sich als Präsident bei der NGO Education Matters und ist Schatzmeister des Clubs Alpbach Zürich.
Benjamin A. Degenhart war Lead Developer im Finance 4.0 Projekt und entwickelte u. a. das Web-Frontend und die zugrunde liegenden Smart Contracts. Mittlerweile arbeitet er als Software Developer bei Adobe.
Neben dem hier genannten Core-Team waren noch weitere Personen an diesem Projekt beteiligt. Unter anderem sind zwei Studienprojekte in Kooperation mit fortiss und der TU München eingeflossen sowie eine Bachelorarbeit und zwei Masterarbeiten.