Soziale Herausforderungen sind lokale Phänomene und dementsprechend sehr individuell. Oft werden sie von bürokratischen und räumlich weit entfernten Organisationen adressiert, die den lokalen Umständen nicht gerecht werden und somit gut gemeinte Lösungsansätze bei der Entwicklungszusammenarbeit im Sande verlaufen. In Form eines Meetups gingen wir der Frage nach, wie wir lokale Veränderungsinitiativen mit Hilfe von Web3 stärken können.
Mit Dr. Ronald Steyer hatten wir einen Experten mit langjähriger Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit an Bord, der als Mitgründer der Initiativen PositiveBlockchain.io und Locational Network die Brücke zum Crypto Space schlägt und uns durch den Workshop führte. Der Host des Abends war die Brainbot Technologies AG, die als jahrelanger Ethereum-Contributor für die Web3-Lösungen shutter, Trustlines, Raiden und Beamer bekannt ist. Also die besten Voraussetzungen für einen spannenden und fruchtbaren Erkenntnisgewinn.
Was ist das Web3?
Aber zunächst die Frage: Was ist eigentlich das Web3 und wieso sollten wir es nutzen? Web3 bezeichnet eine neue Iteration des World Wide Webs, das Usern neben den gewohnten Aktivitäten, wie dem Konsumieren und Produzieren von Content, zusätzlich ermöglicht digitale Assets zu besitzen. Treiber hierfür sind Konzepte wie Dezentralisierung und Blockchain. Insbesondere wird der direkte und plattformunabhängige Austausch von Werten zwischen unterschiedlichen Personen oder Entitäten ermöglicht. Man spricht auch von der Token Economy oder Ownership Economy.
Damit bietet uns das Web3 neue Möglichkeiten, Menschen zusammenzubringen und zu organisieren. Entscheidungen können dezentral getroffen sowie umgesetzt werden, je nach Zielsetzung mal kreativ chaotisch, mal analytisch und prozesslastig. Der Begriff Dezentrale Autonome Organisation (DAO) hat sich hier eingebürgert. Darunter versteht man meist eine mitgliedseigene Community ohne zentralisierter Führung, die ein gemeinsames Ziel verfolgt und sich teilweise Blockchain-basiert organisiert.
“A DAO is a collectively-owned, blockchain-governed organization working towards a shared mission.”
DAO-Beispiele sind PizzaDAO, die nach wenigen Monaten Vorlaufzeit die weltweit größte Pizza-Party schmiss oder KlimaDAO, die mit einer CO2-Zertifikate-gedeckten Währung den Klimawandel bekämpfen möchte.
Part 1: Thematische Einführung
Zu Beginn erläutert Ronald am Beispiel von Ibrahim die grundsätzlichen Herausforderungen in der Entwicklungszusammenarbeit. Ibrahim lebt in Tanzania, studierte in drei Ländern Agrarwissenschaften und ist Manager eines Micro-NGOs für Wiederaufforstung. Um die nötigen Förderungen zu erhalten, muss er Unmengen an Unterlagen ausfüllen und bürokratische Prozesse durchlaufen.
Eine Schwierigkeit wird hier bereits deutlich. Ibrahim gehört zur Mittelschicht, genoss eine akademische Ausbildung und besitzt somit gewisse Skills, die Menschen aus sozial schwachen Familien mitunter nicht aufbringen können. Wie können also Rahmenbedingungen geschaffen werden, die allen Menschen gleichermaßen helfen?
Denn das Geld ist vorhanden. Sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit ist vielmehr eine Frage der Koordination.
Es dauert nicht lange und wir befinden uns inmitten einer Diskussion, die den generellen Einsatz von Web3 in diesem Bereich in Frage stellt. Denn Dezentralität muss nicht automatisch besser sein als zentrale Entscheidungsfindung. Auch eine DAO muss letztendlich entscheiden, wer finanzielle Mittel erhält und wer nicht. Auch hier wird es einen Prozess geben, der den positiven Impact der finanziellen Mittel maximiert und das Risiko für eine eigennützige Bereicherung so gut wie möglich minimiert. Es tut sich der Verdacht auf, dass der unerwünschte Overhead an Bürokratie womöglich nur in einen anderen Kontext verschoben wird.
Vieles spricht für neue Denkansätze in der Entwicklungszusammenarbeit. Soziale Herausforderungen müssen von den betroffenen Menschen ausgehend angegangen werden. Auch wenn wir die Frage der Sinnhaftigkeit einer DAO in diesem Zusammenhang nicht vollends klären konnten, sind solch Diskussionen von unschätzbaren Wert und zeigen neue Perspektiven auf. Zumindest konnten wir uns darauf einigen, dass eine DAO mit ihren agilen und Community-driven Ansätzen ein Gegengewicht zur starren und zentralen Ausrichtung traditioneller Unternehmen bildet. Mit dem Prinzip des First Followers besteht so die Hoffnung, dass aus einer guten Idee etwas Positives entstehen kann.
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Wie muss also eine DAO aussehen, die auf den einzelnen Menschen ausgerichtet ist, der in seiner direkten Umgebung Veränderungen bewirken will?
Part 2: Ausarbeitung der DAO
Im zweiten Teil des Workshops kamen wir ins Doing und erörterten gezielt die wichtigsten Bestandteile einer DAO, die auf den Change Maker ausgerichtet ist — einer Person, die bereit ist, sich mit einer konkreten Idee für eine gute Sache einzusetzen.
Das ist unsere Liste:
- Karma wie bei Reddit für Voting-Zwecke etc.
- Kein First Mover Vorteil
- Motivation für neue Projekte
- Scoring für First Follower, Voting etc.
- Vertrauenskonto und Credibility
- Vorschussvertrauen
- Sichtbarkeit und Reichweite
- Unterstützung diverser Aktivitäten (Wirksamkeit)
- Bürgschaft
- ähnliche Menschen verbinden
Wie man sieht, dreht sich vieles um die Beurteilung der Aktionen eines Change Makers mittels Scoring-System und der Unterstützung sowie Sichtbarkeit positiver Vorhaben. Dabei soll es möglich sein neuen Mitgliedern des DAOs einen Vertrauensvorschuss zu geben, ggf. mit Bürgschaften. Als soziale Initiative sollen, anders als bei anderen Krypto-Projekten, First Mover nicht übermäßig stark belohnt werden.
Im nächsten Schritt teilten wir uns in zwei Gruppen auf. Eine setzte sich mit dem DAO-Bestandteil Unterstützung auseinander, die andere mit Karma.
Bei der Vorstellung zeigte sich, dass beide Themen in starker Wechselbeziehung zueinander und zu den anderen Punkten unserer Liste stehen.
Beispielsweise kam die Idee auf, die DAO in weitere Sub-DAOs aufzuteilen, die sich autonom um unterschiedliche Bereiche kümmern und Supporter mit weiteren Tokens belohnen. Mit den richtigen Tools wäre es möglich die Ausgaben transparent zu tracken und zu bewerten. Beim Thema Karma drehte sich vieles um die Repräsentation und wie die zugehörigen Tokens vor Inflation und Missbrauch geschützt werden können.
Das Spannende waren allerdings die ethischen Fragestellungen, die dabei aufkamen. Wollen wir sozialen Interaktionen wirklich mittels Tokens bzw. Scorings einen Wert zuweisen? Geht es vielleicht auch ohne der Verwendung von konkreten Zahlen? Und wird dann implizit womöglich dennoch ein sozialer Maßstab eingeführt? Assoziationen zum chinesischen Sozialkredit-System waren schnell gezogen. Dieses System weist Bürgern eine “soziale Reputation” zu und bestraft “unerwünschtes” Verhalten mit der Senkung des Scores. So ist es MMA Kämpfer Xu Xiaodong nach dem Exposen mehrerer Fake Martial Artists untersagt Flug-, Zugtickets und Immobilien zu erwerben, er wird aus gewissen Restaurants, Clubs und Hotels ausgeschlossen und sogar seinen Kindern wird der Besuch einer privaten Schule verwährt. Was als “wünschenswertes” und “unerwünschtes” Verhalten gilt, wird von der Kommunistischen Partei Chinas definiert.
Ein solches Design ist natürlich nicht in unserem Sinne. Aber auch ein ausschließlich auf Belohnungen ausgelegtes System bietet einiges an Interpretationsspielraum in puncto Zugzwang und impliziter Bestrafung. Das ideale System wird es nicht geben — und genau hier liegt die Herausforderung.
Auch darf man nicht aus den Augen verlieren, dass durch die Erzeugung von Tokens zwangsläufig Märkte entstehen. Unsere soziale Reputation in diesem Sinne zu kapitalisieren mag sehr befremdlich wirken. Auf der anderen Seite kann man sich fragen, ob Social Capital nicht die nächste logische Evolutionsstufe in einer digitalen Welt ist, in der die Anzahl der Likes und Follower bereits als eine Art soziale Währung fungiert, die Influencer zu monetarisieren wissen. Ein Argument dafür ist, Menschen das ihnen zustehende Kapital zur Verfügung zu stellen, das normalerweise von Plattform-Anbietern abgegriffen und monetarisiert wird. Ein Argument dagegen ist der nachweislich negative Effekt von Social Media auf unsere mentale Gesundheit. Klar ist: Ethisch gesehen ist es ein schwieriges Thema und es gilt — wie immer bei solchen Themen — eine sinnvolle Balance zwischen den unterschiedlichen Trade-Offs zu finden.
Wir können nur hoffen, dass Web3 das Potenzial besitzt ein Regelwerk bereitzustellen, das diesen Trade-Offs gerecht wird. Das Gute ist, dass es jedem frei steht an einem Protokoll teilzunehmen oder eben nicht. Es steht auch jedem frei ein bestehendes Protokoll zu kopieren und mit “faireren” Regeln auszustatten. So könnte über mehrere Iterationen hinweg ein System geschaffen werden, das den Change Maker immer weiter in den Mittelpunkt rückt und unterstützt.
Fazit
Einen vernünftigen Use Case zu entwerfen ist immer schwierig. Einen nachhaltigen Use Case für das Allgemeinwohl zu entwerfen, der dezentral gesteuert wird und nicht auf Profit ausgelegt ist, scheint da noch einiges draufzusetzen.
Deutlich zeigte sich, dass das Design eines DAOs für lokale Veränderungsinitiativen sehr vielschichtig ist, Know-How aus unterschiedlichen Disziplinen erfordert und zusätzlich eine sehr ethische Komponente aufweist, die tiefgreifender zu erörtern ist.
Was ich mitnehme:
- Der Reife-Prozess einer guten Idee erfordert sehr viel Zeit.
- Der Scope für eine Design-Session ist angemessen zu wählen.
- Token Engineering und andere Frameworks sind hilfreich bei der Zielsetzung und der konkreten Ausarbeitung eines Use Cases.
Es war ein erfolgreicher erster Workshop in diese Richtung. Vielen Dank an Ronald und brainbot für den tollen Abend und die Verpflegung!